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15.12.16
12:46 Uhr
SPD

Dr. Kai Dolgner zu TOP 2 + 21: Die Digisierung ist eine permanente Revolution

Es gilt das gesprochene Wort!


Hinweis: Diese Rede kann hier als Video abgerufen werden: http://www.landtag.ltsh.de/aktuell/mediathek/index.html



Kiel, 15. Dezember 2016


TOP 2 + 21: Regierungserklärung „Digitalisierungsstrategie des Landes Schleswig-Holstein“ / Rechtssicherheit für Anbieter freier WLAN-Internetzugänge (Drs. 18/18/4825)



Dr. Kai Dolgner:
Die Digitalisierung ist eine permanente Revolution


Lieber Kollege Günter, manchmal frage ich mich, in welchem Land Sie leben? Leben Sie auch, wie ich, in dem Land, das als erstes ein E-Government-Gesetz beschlossen hat – übrigens zusammen mit Ihnen –, das mit an der Spitze bei Breitbandausbau steht? Das als erstes Bundesland das elektronische Grundbuch fertiggestellt hat? Das im nächsten Jahr als zweites Land die E-Akte eingeführt haben wird? Das selbsternannte Musterländle braucht dafür bis 2022. Immer wenn ich Ihnen zuhöre, fühle ich mich eher wie in einem Gemälde von Hieronymus Bosch anstatt im glücklichsten Bundesland Deutschlands.
Bisher war noch jede umwälzende neue Technologie eine Herausforderung für die ganze Gesellschaft. Früher wurde die Entwicklung der Menschheit mit Kriegen und dem Wirken Einzelner oder einzelner Völker beschrieben. Es ist sicher ein Verdienst von Karl Marx, den bestimmenden Einfluss der Entwicklung der Industrie 1.0 auf gesellschaftliche Verhältnisse herausgearbeitet zu haben. Nur an seiner Vorhersagekraft hat es doch ziemlich gehapert. Das 2



gilt übrigens ausnahmslos für alle, die bisher behauptet haben, ihre Wirtschaftsmodelle könnten die Zukunft genau vorhersagen.
Eins können wir aber aus der Vergangenheit lernen: Zukunftsangst oder Erstarren im Althergebrachten sind schlechte Ratgeber. Weder hat die Eisenbahn zu geschwindigkeitsbedingten Erkrankungen ab 30 km/h geführt, noch ist uns die Arbeit ausgegangen, auch wenn es in den letzten 50 Jahren wahrlich genug entsprechende Titelbilder gegeben hat, die mehr Ängste erzeugen, als dass sie wirklich zur Problemlösung beitragen.
Wir müssen aber auch diese industriellen Revolutionen gestalten, um die Gefahren und Verwerfungen für die Menschen zu reduzieren, und ihre Chancen nutzen. Aufhalten oder gar umkehren können wir sie nicht, auch wenn es immer wieder kulturpessimistische Autoren gibt, die nach Schallplatte, Radio, Fernsehen jetzt aber nun mit dem Internet den Untergang des Abendlandes gekommen sehen. Also diesmal bestimmt.
Wie bei jeder Revolution gibt es auch jetzt Sieger und Verlierer. Zunächst einmal sind die Menschen unterschiedlich gut vorbereitet, was wir ja auch hier im Landtag beobachten können. Während der eine schon vor 30 Jahren mit dem liebevoll „Datenklo“ genannten Akkustikkoppler den Telefonhörer und die Telefonrechnung seiner Eltern malträtierte und strenggenommen sogar eine Straftat beging, begann für andere erst mit dem I-Phone die aktive Nutzung von Datenverbindungen. Nach meiner Überzeugung ist das übrigens nicht eine reine Generationenfrage.
Ich halte sogar den Begriff der „digital natives“ für die junge Generation für irreführend, da er die Tatsache verdeckt, dass es nicht nur auf den technischen Zugang ankommt, sondern auch wie qualifiziert ich ihn nutzen kann. Das hat auch eine starke sozio-ökonomische Komponente. Um es einmal drastisch auszudrücken: Funktionale Analphabeten werden auch durch Smartphones nicht automatisch alphabetisiert. Andererseits gibt es durchaus Apps, die die hohe Attraktivität der Technik und die alte Erkenntnis, dass der Spieltrieb eigentlich zum Lernen da ist, zur Alphabetisierung nutzen.
Leider führen aber vorhandene digitale Kompetenzen nicht automatisch zum dauerhaften persönlichen Erfolg. Die Verklärung des Heeres hochkreativer junger Freiberufler als digitale Bohème hat zwar eine urbane Romantik, aber der Schritt ins digitale Prekariat ist kurz. Alte 3



Fragen, wie die soziale Absicherung von Freiberuflern und Soloselbständigen, werden dringlicher.
Aber auch die Spielregeln für Arbeitnehmer brauchen ein upgrade. Die digitale Erreichbarkeit, die Möglichkeit, vom Home Office aus zu arbeiten und seine Arbeit ergebnisorientiert zu gestalten, hat auch die Schattenseiten der Entfremdung, des Vernichtens privater Rückzugs- und Erholungsräume usw. Wie die Industrie 1.0 Arbeitszeitgesetze erforderlich machte, müssen wir heute über Erreichbarkeitsregeln diskutieren. Dass „always on“ mehr digitale Hölle als Paradies sein kann, haben diverse Firmen inzwischen begriffen.
Die Digitalisierung ist eine permanente Revolution. Kaum habe ich mich auf eine Herausforderung eingestellt, steht schon die nächste vor der Tür. Während zum Beispiel die Museen noch dabei sind, einen zweidimensionalen Zugang zu ihren Exponaten über die Webseiten ins Leben zu rufen, habe ich bereits heute mit meinem 3D-Helm und den entsprechenden Sensoren die Grundlage, um in virtuelle Ausstellungen lebensecht dreidimensional einzutauchen. Es ist übrigens so faszinierend, wie es klingt, und eröffnet auch wieder ganz neue Möglichkeiten für die Arbeitswelt.
Auch das Einblenden digitaler Inhalte in unsere analoge Realität, die sogenannte Augmented Reality, eröffnet viel mehr Möglichkeiten, als Pokemons in Landtagsfluren zu jagen. Aber auch hier lauert schon die nächste Herausforderung. Was erweist sich als praktikabel und was nicht? Was ist eine Sackgasse und was nicht? Was bleibt eine Nischenanwendung? Im Nachhinein hat es sich als richtig erwiesen, in den Städten vorerst keine Landeplätze für Flugautos vorzusehen, auch wenn es seit 80 Jahren funktionierende Modelle gibt.
Auch die Art, wie wir die Wissens- und Kompetenzweitergabe in unserem Bildungssystem organisieren, ist durch diese permanente Revolution gefordert. Die knapp 300 öffentlichen Schulträger in unserem Land sind dabei unterschiedlich weit, und es ist gut investiertes Geld, wenn das Land allen Schulen innerhalb der nächsten Jahre einen Glasfaseranschluss zur Verfügung stellt. Eine moderne Infrastruktur ist die notwendige, aber nicht die einzige Vorrausetzung.
Bis neue Inhalte und Kompetenzen sich von den Hochschulen über die Lehrerausbildung bis in die Klassenzimmer verbreitet haben, sind auch schon früher gerne mal 20 Jahre ins Land 4



gegangen. Das war auch nicht so schlimm, denn die grundsätzliche Funktionsweise eines Verbrennungsmotors hat sich auch so schnell nicht geändert. Zwischen seiner Erfindung und der beruflichen Notwendigkeit eines Führerscheins vergingen fast drei Generationen. Diesen Puffer gibt es nicht mehr.
Wir werden unsere Anstrengungen in allen Bereichen verstärken müssen, so dass die Schülerinnen und Schüler überall im Land nicht den Eindruck haben, in dem Moment, in dem sie ihre Schule betreten, machen sie nicht eine Zeitreise in die Jugend ihrer Eltern, sondern einen Schritt in die Zukunft.
Auch beim Thema Verwaltungsmodernisierung haben wir die Mühsal der Ebene vor uns. Am grünen Tisch schnell beschlossen und mit einem ambitionierten Zeitplan versehen, wundern sich hinterher die Verantwortlichen, dass das alles länger dauert. Das liegt nicht etwa daran, dass sich im öffentlichen Dienst die Truppe der reformunwilligen Internetausdrucker sammeln würde, sondern es gibt ein paar ganz praktischen Überlegungen, die berücksichtigt werden müssen.
1. Während das eine oder andere Spiel oder auch Anwendung gerne mal beim Anwender reifen darf, die sogenannte Bananensoftware, muss die Software zum Einsatz von Rettungsdiensten oder zur Verwaltung von Patientendaten am ersten Tag des Echtbetriebes funktionieren. Fehlfunktionen oder Abstürze bedeuten da halt nicht, dass man einen Spielstand neu laden muss oder ein paar Seiten Schreibarbeit verloren sind. 2. Dann gibt es viele Bereiche, für die es bereits funktionierende, meistens handgestrickte Lösungen gibt. Es ist erstaunlich, was einzelne Mitarbeiter schon für Lösungen nur mit Hilfe einer Excel-Tabelle entwickelt haben. Wir sollten das mehr wertschätzen. Aber es ist halt nicht standardisiert. Datenschutz und Datensicherheit sind häufig kaum vorhanden, vom Datenaustausch ganz zu schweigen. 3. In der Vergangenheit war die Einführung neuer Techniken mit dem Irrglauben verbunden, es ließen sich damit ganz viele Stellen sparen. Meistens ja, um die Haushälter breitzuschlagen. Das Gegenteil ist der Fall. Da man die alte und die neue Technik solange parallel betreiben muss, bis die neue Technik alle notwendigen Vorgänge der alten Technik abbilden kann, alle Daten sicher übertragen sind und außerdem das Personal auch noch geschult ist, braucht man in der Übergangsphase mehr und nicht weniger Personal. 5



Als ehemaliger Leiter eines Servicezentrums für Lehre an der CAU und damit auch fachlich für den Prüfungsbereich zuständig, kann ich ein Lied davon singen. Bei der Einführung des elektronischen Prüfungssystems HIS-POS zum Beispiel mussten wir solange die analoge und die digitale Aktenführung parallel betreiben, bis das neue System alles zuverlässig konnte, was es sollte, schließlich geht es bei dem Erfassen von Prüfungsleistungen um die Zukunft junger Menschen. Da gab es dann lustige Episoden. Als sich zum Beispiel herausstellte, dass das neue System nicht geeignet war, fehlerfrei aus der komplexen Prüfungsordnung die Notenberechnung und Zeugniserstellung richtig abzubilden, guckt man schon mal in den Kalender, ob nicht der 1. April ist, wenn der Lösungsvorschlag ist, die Prüfungsordnung doch gefälligst den Programmerfordernissen anzupassen.
Deshalb ist es ja so immens wichtig, die tatsächlich Betroffenen und nicht die formal Verantwortlichen schon bei der Erstellung des Anforderungsprofils miteinzubeziehen. Das betrifft gerade die Pfiffikusse, die sich bisher mit Bordmitteln beholfen haben.
Zudem sollten wir unsere Dienstleistungen nicht unter dem Aspekt digitalisieren, viel Geld zu sparen, sondern um unsere Dienstleistungen zu verbessern. Natürlich spare ich nicht wirklich Personal, wenn ich z.B. ein Bauantragsbuch nicht mehr händisch, sondern digital führe. Aber bei der digitalen Vorgangsverwaltung kann der Bauherr online sehen, wie weit sein Bauantrag ist, und muss nicht extra zum Kreis fahren. Darin liegt der Mehrwert für die Gesellschaft.
Wir müssen aber auch nicht auf jede Herausforderung mit Anpassung reagieren. Müssen Bodenampeln wirklich sein, damit sich Menschen, die auch beim Gehen den Blick nicht vom Smartphone lassen können, nicht an der Ampel gefährden? Als die Menschen anfingen, mit Walkmans Fahrradzufahren, war ja auch nicht die Lösung, alle Hupen und Klingeln auf Lichtsignale umzustellen.
Leider reicht auch jetzt meine Redezeit nicht, um alle meine Gedanken darzustellen, deshalb als Zwischenfazit: Wenn die Digitalisierung eine permanente Revolution ist, dann müssen wir sie auch permanent begleiten und gestalten. Eine Digitale Agenda muss deshalb immer auch flexibel sein und bleiben und darf nicht zu einem starren Gerüst von abzuarbeitenden Einzelmaßnahmen verkommen, die eventuell schon von der Entwicklung überholt sind, wenn ihre Umsetzung ansteht. Ich würde mich freuen, wenn es das zukünftige Parlament und die 6



zukünftige Regierung als gemeinsame Daueraufgabe begreifen würden, deren Ausgestaltung natürlich auch entsprechend hinterlegt ist.
Kommen wir zur Kritik der Opposition. Ich kann die CDU ja gut verstehen. Da ist man sich in der Sache mit der Regierung größtenteils einig und muss natürlich trotzdem seinen Verfassungsauftrag erfüllen. Aber da hilft ja der bewährte Dreiklang: zu spät, zu wenig und zu unspezifisch. Früher, mehr und detaillierter ist ja immer besser, wer möchte dem schon widersprechen?
Nun, zumindest im Bereich Digitales hat die CDU rechtzeitig ihre oppositionellen Hausaufgaben gemacht und eine Große Anfrage gestellt. Bei Kommunales mussten wir es ja selbst übernehmen. Und die FDP hat damals beklagt, dass es viermal von der Tagesordnung genommen wurde. Das konnte aber wohl kaum gegen ihren Willen passiert sein, eine Verschiebung braucht immer die Zustimmung aller Fraktionen. Vielmehr hatten Sie wohl auch selbst erkannt, dass die Antworten wahrlich nicht die erhoffte Grundlage für eine feurige oppositionelle Kritik sein konnten.
Dann erreicht einen in der Opposition die Nachricht, dass ein zentrales Projekt der Regierung kurz vor der Fertigstellung steht. Was tun? Das nächste altbewährte oppositionelle Hausmittel kommt also zur Anwendung: Flugs ein paar eher allgemeine Punkte zusammenschreiben und das als gleichlautenden Antrag schnell vor der Regierung in den Landtag bringen. Dann kann man wenigstens die Story erzählen, die Regierung sei ja nur tätig geworden, weil man selbst einen Antrag gestellt hätte, so wie Frau Klahn vorgestern im Offenen Kanal. Eigentlich ist die Behauptung ja schon ein bisschen albern, dass eine Regierung innerhalb von drei Wochen ein solch umfassende Strategie entwickelt, ressortabstimmt und ins Parlament bringt.
Auch Sie gehören wohl zu denjenigen, die sich neben eine viel befahrene Straße stellen, „weiterfahren, weiterfahren“ rufen und andere dann glauben machen wollen, dass die Autos nur wegen Ihnen fahren.
Und eigentlich wissen Sie es ja auch oder können es zumindest wissen, dass wir in wichtigen Teilbereichen viel weiter sind, als Sie es hier darstellen, z.B.:
Beim Glasfaserausbau nimmt Schleswig-Holstein einen Spitzenplatz ein.
Wir sind das erste Bundesland mit komplett elektronischem Grundbuch. 7



Wir werden das zweite Bundesland sein, dass die E-Akte Ende 2017 eingeführt haben wird; schneller ist nur noch Bayern Mitte des nächsten Jahres, während das selbsternannte Musterländle noch bis 2022 braucht.
Natürlich ist klar, was jetzt kommt, nämlich der nächste Drehschlüssel aus dem kleinen Oppositionswerkzeugkasten: Wenn man einen Fakt nicht mehr ernsthaft bestreiten kann, dann haben sich die Dinge nicht etwa positiv entwickelt wegen der Landesregierung, sondern trotz der Landesregierung. Das schöne ist, diese Argumentationsknarre hat noch eine zweite Drehrichtung, denn wenn sich etwas negativ entwickelt hat, war es natürlich selbstverständlich diese Landesregierung, mindestens aber der rote Teil, wenn nicht gar Torsten Albig persönlich.
Herr Kollege Vogt, natürlich hat die Landesregierung den Breitbandausbau nicht alleine geschafft, das hat auch niemand so dargestellt. Das Land schafft vielmehr die Rahmen und Förderbedingungen, damit die von Ihnen so gelobten Stadt- und Gemeindewerke das auch tun können, wo die großen Konzerne versagen.
Warum haben Sie denn dann um Himmelswillen zusammen mit der CDU ausgerechnet die Änderung im Gemeindewirtschaftsrecht abgelehnt, die einen gemeindeübergreifenden Netzausbau durch die Gemeindewirtschaft entscheidend erleichtert?
Zum Abschluss möchte ich noch ein paar Worte dazu verlieren, dass nicht alles wirklich neu ist, was uns im digitalen Gewand wieder begegnet. Gerade in der Weihnachtszeit sollten wir uns daran erinnern, dass es „postfaktischen“ Schreihälsen schon zu biblischen Zeiten in der Echokammer des Versammlungsplatzes vor dem Palast des römischen Statthalters gelungen sein soll, die Freilassung eines Schuldigen und die Kreuzigung eines Unschuldigen zu erreichen, nachdem dieser nur 5 Tage vorher als Volksheld gefeiert wurde.
Medienkompetenzvermittlung ist sehr wichtig, aber sie ist nicht vorstellbar, ohne dass man die gute alte antike Argumentationslehre, die Basis der Aufklärung, wieder fester in den Köpfen der Kinder, aber auch der Erwachsenen verankert.
Deshalb zum Schluss zu Weihnachten mein erneuter Buchtipp: „Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren.“ Gerade in diesem Jahr hat mir das wieder sehr geholfen. 8